Neue Wege für den Rothirsch?

Berghirschrudel (c) BajohrPressemitteilung der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald

Seit dem Herbst 2007 hat sich die Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald auf die Suche begeben. Das Ziel: Neue Wege im Umgang mit dem Rothirsch, dem größten, frei lebenden Säugetier in Deutschlands ältestem Nationalpark. Ein schwieriger Prozess mit einer Mut machenden Vision.

Bereits kurz nach der Nationalpark-Gründung im Jahr 1970 wurden zur Minderung der enormen Schäl- und Verbissschäden durch den damals stark überhöhten Rotwildbestand so genannte Wintergatter eingerichtet: Mehrere Dutzend Hektar große, vollständig umzäunte Bereiche, in die die Hirsche im Herbst hineingelockt werden. Was sie anzieht, ist das gefundene Fressen: Gras- und Maissilage, als besondere Schmankerl auch mal Futterrüben und Apfeltrester, dazu jede Menge bestes Wiesenheu.

Die Fütterung in den Wintergattern und die drastische Reduktion der Bestände in den 70er Jahren brachten eine deutliche Entlastung der Vegetation mit sich. Nun konnte auch die verbissempfindliche Tanne als Charakterbaumart des Bergmischwaldes wieder wachsen. Verbiss- und Schälschäden gingen stark zurück. Die eigentlich nur als Übergangslösung gedachten Wintergatter bewährten sich auf`s Beste – sie existieren deshalb bis heute.

Nach nunmehr über dreißig Jahren Wintergatter-Tradition sammeln sich große Rudel in den vier von der Nationalparkverwaltung betriebenen Gattern und verbleiben dort einen ganzen Bayerwald-Winter lang – um die sechs Monate jedes Jahr. Doch mit dem Wegfall der winterlichen Futternot als wichtigstem natürlichem Regulativ heimischer Pflanzenfresser drohen die Hirschpopulationen in den Himmel zu wachsen. Wölfe fehlen noch immer im ansonsten urigen Bayerischen Wald, also muss der Mensch regulierend eingreifen.

Im Nationalpark Bayerischer Wald geschieht dies nicht durch konventionelle Jagd. Um Störungen zu minimieren und eine größtmögliche Annäherung an natürliche Regulationsmechanismen zu gewährleisten werden besondere Methoden des „Wildtiermanagements“ angewandt. Das bedeutet für den Rothirsch: Abschuss durch qualifizierte Berufsjäger im Wintergatter.

Fütterung, Eingatterung und Erlegung des Rotwildes stehen dabei im Widerspruch zum weltweit geltenden Ziel von Nationalparken – vom Menschen ungestörte, ungelenkte dynamische Entwicklung der Natur. Nach dem Motto „Natur Natur sein lassen“. Also eigentlich auch: Hunger, Freiheit und ein natürlicher Tod für Rothirsche.

Dem steht eine Eigenart der Hirsche entgegen. Es handelt sich um eine hochmobile Art, echte Wandervögel: Während sie den Sommer gerne in den kühlen, grasreichen Hochlagen des Bayerisch-Böhmischen Grenzkammes verbringen, würden sie im Winter am liebsten in die Tallagen und Auen ausweichen, wo weniger Schnee liegt. Früher zogen sie nach der herbstlichen Brunft bis an die Donau. Vergleichbar wanderten die oberbayerischen und Allgäuer Hirsche jedes Jahr aus den Alpen bis weit ins Alpenvorland.

Doch hier wie dort sind heute die Wanderrouten versperrt. Homo sapiens hat sich mit Straßen, Bahndämmen und Siedlungen breit gemacht. Auch die Landschaft hat sich grundlegend gewandelt. Die außerhalb des Nationalparks liegende Kulturlandschaft ist kein Land für Hirsche. Der Wald ist meistens eine trostlose Fichtenmonokultur, die Wiesen sind intensiv genutzt. Deswegen führt die Wanderung der Hirsche heutzutage in die Sackgasse Wintergatter. Nur im kurzen Sommer bleibt ihnen Raum für ein halbwegs naturnahes, artgerechtes Leben.

In den 90er Jahren ereignete sich in vielerlei Weise ein Wandel im Nationalpark: Großflächig wurden die alten Bergfichtenwälder in den Hochlagen vom Borkenkäfer kahl gefressen und zum Absterben gebracht, eine neue Waldgeneration steckt noch in den Kinderschuhen und bietet nebenbei jede Menge besten Futters. Der ehemals Eiserne Vorhang wurde zum Grünen Band. Und auf leisen Pfoten kehrte der Luchs, ein alter Waidler, wieder zurück. Sogar vom Wolf munkelt man, er würde auskundschaften ob „der Wald“, der Bayerwald, schon rudeltauglich wäre…

Vor diesem Hintergrund und gestützt durch neue Erkenntnisse der wildbiologischen Forschung startete Nationalparkleiter Karl Friedrich Sinner im Herbst 2007 eine Diskussion, die alle Interessengruppen zum Thema Rothirsch in der Region einbinden soll, um ergebnisoffen und langfristig – bis 2010 nämlich – sich über die Zukunft des Rotwildmanagements im Nationalpark und seinem Umfeld zu unterhalten. Neue Wege für den Rothirsch – diese können nur von Waldbauern und Naturschützern, Jägern und Förstern gemeinsam abgesteckt werden.

Schon bei der Auftaktveranstaltung, den Rothirschtagen 2007 im letzten Herbst, wurde deutlich: Dieser Weg wird kein leichter sein. Die Kleinprivatwaldbesitzer fürchten um ihr Wirtschaftsgut Wald, die Förster im Staatswald ebenso. Der Naturschutz weiß nicht, was ihm mehr am Herzen liegen soll – nachwachsender, unverbissener Mischwald oder Artenschutz für eine Spezies, die in den letzten Jahrzehnten große Lebensraumverluste vertragen musste. Am schwersten tun sich aber die Jäger. Als „Anwälte des Wildes“ ja eigentlich dem „angewandten Naturschutz“ verpflichtet, sind sie hin und her gerissen zwischen dem „engen Schulterschluss mit den Waldbauern“, die ihnen ja das Jagdprivileg erst verpachten, und der verlockenden Aussicht auf den „König der Wälder“ als fetter Beute – so jeweils die Statements.

Vielleicht ist es nach knapp 40 Jahren ohne Rotwild im vorderen Bayerischen Wald die Angst vor dem Unbekannten. Jedenfalls ist ein klares Akzeptanzproblem festzustellen. So beliebt der stereotyp röhrende Brunfthirsch im Herbstwald auch sein mag als klischeehaftes Bild kraftstrotzend uriger Natur: Wer gefragt wird, ob er ihn quasi vor der eigenen Haustüre haben will, der ist skeptisch. Und da glaubte man bisher, dass nur Luchs und Wolf für Schrecken sorgen! Die Ablehnung geht bei man manchen so weit, dass sie schon das Gespräch über neue Wege verweigern. Als Gründe müssen Sorge um drohende Waldschäden, Furcht vor einer Überdichte und die Angst vor der „Reise ohne Wiederkehr“ des Rothirsches, sprich: seiner Ausrottung, herhalten.

Bei allen widerstreitenden Interessen, unterschiedlichen Herangehensweisen und Missstimmungen beginnt sich nach einem knappen halben Jahr des Miteinander-Redens eines herauszukristallisieren: Entscheidend für eine mögliche Umsetzung des Vorhabens „Freiheit für den Rothirsch!“ wird das Rotwildmanagement, sprich die Bejagung, im Nationalparkvorfeld sein. Wenn der Nationalpark – gemäß seiner eigentlichen Aufgabe – die Manipulation der Rothirschpopulation irgendwann beenden sollte, dann lastet die Verantwortung auf den Schultern der Jäger: Fraßschäden am Wirtschaftswald müssen verhindert werden, es dürfen nicht zu viele Hirsche werden und man darf sie nicht am freien Umherziehen hindern, etwa durch neue Fütterungen außerhalb des Nationalparks.

Unzweifelhaft ein großes Vorhaben, das Nationalparkleiter Sinner in seinen letzten Amtsjahren da angestoßen hat. Viel Überzeugungsarbeit ist noch zu leisten bei allen Beteiligten. Was treibt ihn und seine Mitarbeiter an? Eine Mut machende Vision. Von einem Nationalpark, in dem nicht nur „Natur Natur sein lassen“, sondern auch „Hirsche Hirsche sein lassen“ gilt. Ein schrittweises Abrücken von den Wintergattern. Und in der Folge neue Wege neue Wege für den Rothirsch, ermöglicht durch die Kooperation aller Beteiligten: Die Landnutzer in Land- und Forstwirtschaft tolerieren wieder die Anwesenheit eines Tieres, das hier lange vor ihnen schon heimisch war und ein Stück Heimat ist. Der Naturschutz nutzt die Gelegenheit für einen neuartigen Biotopverbund, denn Hirschlebensraum kann auch Lebensraum für Böhmischen Enzian, Biber und Neuntöter sein. Und die Jäger? Sie übernehmen das Management dieser sensiblen Art, verhindern Schäden und vermeiden die Fehler der Vergangenheit: Richtige, zeitlich und räumlich begrenzte Bejagung ermöglicht es dem Rotwild, sich seine Nahrung ungestört auf Wiesen zu suchen, statt sich im schadensanfälligen Wald verstecken zu müssen. Die Rothirschdichte bleibt auf einem naturnahen Niveau.

Das Ziel aus Sicht des Hirsches ist also klar. Bleibt nur noch, den für alle Beteiligten gangbaren Weg dorthin zu finden.

www.nationalpark-bayerischer-wald.de

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